Angst vor dem Neuen

Abschrift eines Vortrags, den Avi Grinberg vor StudentInnen der zweiten Ausbildungswoche in Jahr B hielt (Schweiz, 1992)

Wenn ich wirklich wissen wollte, wie es euch geht, müsste ich fragen, wie viel Neues es in eurem Leben gibt. Ich würde mich nicht nach guten oder schlechten Ereignissen erkundigen, sondern nach Neuen. Für die Jüngeren unter euch ist „neu” noch keine so große Sache. Abgesehen von einigen körperlichen Beschwerden, die immer wieder auftauchen, ist alles neu: Die Welt ist noch neu. Für die meisten Menschen über 30 Jahren beginnt die Welt alt auszusehen. Jede Stadt ist nur eine weitere Stadt. Ihr habt schon oft Schnee gesehen, also schneit es eben nur ein weiteres Mal. Bringt man etwas Neues in ein Leben, das für gewöhnlich aus Wiederholungen von Bekanntem besteht, hat das etwas Magisches.

Eine Frage solltet ihr euren Klienten stellen, die Frage, wie viel Neues es in ihrem Leben gibt. Je mehr Neues es im Leben gibt, desto weniger Altes gibt es. Ein Großteil unserer Arbeit mit Menschen betrifft ihre Vergangenheit – wir wollen dafür sorgen, dass die Vergangenheit abgeschlossen ist und etwas Neues in ihr Leben eintreten kann. So bringt ihr ihnen bei, sich zu erneuern.

Stellen wir uns eine Schachtel vor und gehen davon aus, dass diese Schachtel mein gewöhnliches „Ich” ist – mein Name, meine Gewohnheiten, meine Geschichte, die noch nicht abgeschlossen ist, das, was die Leute über mich sagen, was ich über mich denke oder nicht denke usw. Ich lebe in dieser Schachtel und von dort betrachte ich die Welt. Wenn etwas in der Schachtel mir sagt, dass ich immer wichtig sein muss, weil ich sonst nicht lebendig bin, dann mache ich alles so, als wäre es sehr wichtig. Das passiert so mechanisch, dass ich es gar nicht bemerke, denn das bin „ich”. Ich glaube auch, dass alle anderen genau dasselbe machen, denn wenn ich so bin, dann sind auch die anderen so. So sehe ich die anderen Menschen. Wenn ich versuche wichtig zu sein und ihr versucht ebenfalls wichtig zu sein, muss ich gegen euch angehen, damit ich der Wichtige bin. Es spielt keine Rolle, mit wem ich das mache. Selbst wenn die andere Person mir sagt, dass es ihr nichts ausmacht, wenn ich wichtiger bin, glaube ich das nicht. Denn ich weiß, wichtig zu sein ist das Wichtigste. In meinen Beziehungen dominiere ich also entweder die anderen, damit ich mich wichtig fühlen kann, oder ich bekämpfe sie die ganze Zeit, um wichtig zu werden. Das gilt nicht nur für das Wichtigsein. Mit jeder Haltung, in der jemand gefangen ist, passiert dasselbe, zum Beispiel wenn es darum geht, schöner, dünner, intelligenter oder gerechter zu sein. Wenn ich die Haltung habe, hart sein zu müssen, dann wird die Welt hart für mich sein. Was passiert, wenn ich auf echte Weichheit treffe? Ich werde sie nicht ertragen können, sie wird mir Angst machen. Und wenn ein Mensch mit einer weichen Haltung auf eine harte Person trifft, dann wird er ebenfalls Angst bekommen. Was für eine Haltung ich auch habe, sobald ich in meinem Leben eine andere oder neue Haltung antreffe, wird Angst auftauchen.

Stellt euch vor, ihr trefft jemanden, der sich nicht an eure Regeln hält. Zum Beispiel macht jemand beim Schachspiel einen Zug mit dem Springer, der im Schach nicht möglich ist. Ihr sagt ihm das, aber er meint, nach seinen Regeln sei das in Ordnung so. Mit diesem Menschen könnt ihr nicht wie gewohnt sprechen. Ihr könnt nicht zusammen Schach spielen – aber hier geht es ja auch nur um Schach. Im Leben bedeutet es aber, dass ihr nicht mit den Menschen spielen könnt, die sich nicht an eure Regeln halten. Folglich trefft und „spielt” ihr nur mit einer begrenzten Auswahl von Menschen. Wir versuchen normalerweise nur Leute zu treffen, die sich so wie wir verhalten. Begegnen wir jemandem, der uns fremd ist, versuchen wir ihm auszuweichen, denn er macht uns Angst: Wir wissen in solch einer Beziehung nicht, wie wir an unseren alten Gewohnheiten festhalten können. Schaut euch euer Leben an und ihr werdet feststellen, dass ihr euch meistens gleich verhaltet. Ihr hattet immer wieder dieselben Beziehungen, auch wenn es immer andere Menschen waren.

Stellt euch die Menschen so vor, als säßen sie auf einer Insel und wären von einem Meer aus Angst umgeben. Inseln bleiben normalerweise immer an derselben Stelle – Hawaii liegt immer an derselben Stelle. Aber die Inseln, von denen ich spreche, treiben umher und treffen ständig auf neue Inseln. Jedes Mal wenn eine Insel eine andere trifft, kommt Angst auf (oder Aufregung). Warum ist das so? Wenn ihr anderen Menschen begegnet, dann betrachten sie euch so, als wärt ihr genauso wie sie. Jedes Mal also, wenn ihr etwas seid oder macht, was ihnen neu ist, kommt Angst auf. Es zeigt, dass etwas Neues geschieht – etwas, womit derjenige nicht umzugehen weiß und lernen muss, was er damit anfängt. Wenn wir das verstehen, können wir Angst als Motivation begreifen. Betrachten wir einen Menschen als eine Insel in einem Meer von Angst und sehen, dass er schwimmt und auf den Wellen reitet, statt zu versuchen, wegzulaufen oder auszuweichen, dann merken wir, dass er sich verändert. Er ist keine treibende Insel mehr.

Menschen werden bei den meisten Erlebnisse in ihrem Leben von Angst geleitet. Wenn ich eine kleine grüne Insel bin, die ihrer Wege schwimmt, und einer großen blauen Insel begegne, dann werden Angstwellen hochschwappen und mich von der angsteinflößenden Insel und von meinem Weg forttreiben. Ich treibe in eine neue Richtung, begegne wieder einer anderen Insel und werden von den Angstwellen wieder an einen anderen Ort gespült. Das gilt nicht nur für mich. Die meisten Menschen machen das, was sie machen, weil es die weniger beängstigende Möglichkeit ist. Mit anderen Worten, es war der bequemste Weg, weil es nur wenig Angst gemacht hat – falls überhaupt. (Angst zeigt, dass etwas unangenehm ist; etwas Unangenehmes zeigt, dass es Angst macht.) Oder nehmen wir an, ich hätte ein großes Talent entdeckt. Der Gedanke, dieses Talent zu entwickeln, ängstigt mich so sehr, dass ich es lieber wieder aufgebe. Mein Talent hat mich mit der Angst, die es in mir geweckt hat, von sich weggeschoben.

Wenn wir uns die Diskrepanz zwischen Grundpotential und aktuellem Potential anschauen, können wir sehen, dass sie durch Angst entstanden ist. Mein Potential auszufüllen bedeutet, meine kleine Insel zu verlassen und andere Inseln zu treffen, statt sie als zu beängstigend anzusehen. Das Leben als Insel in einem Strom von Angst bedeutet, dass wir bei allem, was uns begegnet, auch der Angst begegnen werden. Nehmen wir ein Beispiel: Eine Insel, die sich nach Liebe sehnt, lebt bequem und mit dieser Sehnsucht vor sich hin. Eines Tages taucht eine liebende Insel auf und beginnt Wellen zu schlagen. Die Insel, die sich nach Liebe sehnt, begreift, dass sie ihr Leben verändern, Gewohnheiten und Bequemlichkeit aufgeben muss …und ihre Angstwellen schieben die Liebe fort.

Alles, was wir lernen und was neu ist, ist mit Angst verbunden. Wenn ihr etwas lernt, ohne dass es euch ängstigt, dann fordert es euch nicht und es liegt für euch nichts Neues darin. Dann gibt es keinen wirklichen Grund, es zu lernen, denn ihr wiederholt nur, was ihr schon wisst.

Wir leben unser Leben, indem wir versuchen, vor der Angst wegzulaufen; wir leben so, dass uns unsere Sicherheit bleibt. Wir geben alles, um unsere Sicherheit zu gewährleisten, etwa so, als würden wir unsere Krankenversicherung zahlen. Die meiste Zeit des Tages widmen wir dem Aufrechterhalten der Struktur, die wir um uns errichtet haben, um sicherzugehen, dass sie nicht zerstört wird. Also folgen wir unseren täglichen Routinen: Wir spülen das Geschirr, machen das Haus sauber, pflegen unsere alten Beziehungen (ob wir sie wollen oder nicht), nehmen dasselbe Essen zu uns, gehen zu den gewohnten Orten usw. Wir lassen nur wenig Raum für neue Dinge. Die meisten von uns haben gar keine Zeit am Tag, in der etwas Neues passieren könnte. Stattdessen leben wir immer und immer wieder auf dieselbe Weise.

Wenn wir eine Veränderung wollen, müssen wir bereit sein, der Angst zu begegnen. Ich bin mir sicher, dass ihr Angst für eine große Sache haltet. Wir glauben alle, dass Angst etwas Schlechtes ist, dass sie zu mächtig ist und nur wenige mutige Menschen sie überwinden können. Nie könnte ich das, denn ich bin ja ein ganz normaler Mensch und Angst schreckt mich. Lasst uns noch einmal das Bild von den Inseln aufgreifen. Stellt euch vor, ihr hängt auf einer Insel fest, ihr könnt nicht schwimmen und im Wasser gibt es alle möglichen Tiere. In gar nicht so weiter Ferne liegt eine andere Insel mit Dattelpalmen. Ihr seit hungrig und die Datteln an den Palmen sind reif und wollen gegessen werden. Das ist die Situation der Menschen, entweder du schwimmst oder du schwimmst nicht. Manche Menschen schwimmen nie und bleiben ihr ganzes Leben lang hungrig. Manche Menschen schwimmen und werden von Haien gefressen. Manche Menschen schwimmen, gelangen zu der Insel und essen, bis sie eines Tages feststellen, dass alle Früchte aufgegessen sind und sie wieder schwimmen müssen. Egal wie oft ihr schon geschwommen seit, ihr werdet immer wieder schwimmen und der Angst im Wasser begegnen müssen. Ihr könnt die Angst nicht überwinden – sie wird immer da sein. Jedes Mal wenn ihr ins Wasser steigt, wisst ihr, dass dort auch Haie sind. Selbst wenn ihr lernt, sehr schnell zu schwimmen, kann immer ein Hai kommen, der noch schneller ist. Es könnten auch noch andere hungrige Tiere im Wasser sein. Vielleicht bekommt ihr auch einen Krampf im Bein und ertrinkt. Es gibt keine Garantie, dass ihr die Palme erreicht. Aber die Alternative ist, immer gleich zu bleiben. Schaut euch die Menschen an, die auf diese Weise älter geworden sind, ihr Leben bleibt tagaus, tagein gleich. Das mag bequem klingen; aber wenn ihr seht, wie viele chronische Beschwerden sie haben, die nur immer schlimmer werden, dann versteht ihr, dass es vielleicht doch nicht so bequem war, wie es schien. Wenn wir von einer Insel zur nächsten schwimmen, lassen wir Vieles hinter uns. Dazu gehören auch chronische Beschwerden.

Auf der Insel gibt es eine Instanz, die uns die ganze Zeit sagt, dass wir schwimmen sollen. Wir können diese Instanz Lebensneugier nennen. Normalerweise bekämpfen wir sie, weil wir der Angst beim Schwimmen nicht begegnen wollen. Wir lassen uns von ihr nicht führen, außer in sehr seltenen Momenten.

Ich habe meine Insel behütet, als wäre sie das Einzige auf der Welt. Heute macht es mir nichts aus, mich von ihr fortzubewegen. Nicht, dass ich keine Angst hätte – ich habe Angst zu schwimmen und das gibt mir die Motivation, schneller zu schwimmen. Die Tatsache, dass ich Erfahrung im Schwimmen habe, bedeutet nicht, dass die Haie mich nicht fressen können. Aber es bedeutet, dass es leichter wird, die Insel zu verlassen.

Eure Arbeit besteht darin, eure Klienten zu „überzeugen”, zu der Insel mit der Palme zu schwimmen. Habt ihr schon einmal Datteln direkt vom Baum gegessen? Dafür lohnt es sich zu schwimmen.

Der Raum mit unserem Arbeitstisch ist ein sehr gutes Übungsfeld. Dort sind wir ständig mit der Entscheidung konfrontiert, ob wir schwimmen oder nicht – ob wir der Angst begegnen oder nicht. Da eine andere Insel bei uns ist, die nicht lernen wird, Angst zuzulassen, wenn wir es nicht tun, müssen wir uns bewusst entscheiden zu schwimmen. Es ist ein lebenslanges Übungsfeld. Wenn ihr abends nach Hause kommt, dann wartet dort vielleicht wieder eine Insel auf euch und ihr könnt wieder wählen, zu ihr zu schwimmen statt ihr mechanisch zu begegnen. Der Arbeitsraum ist nicht nur ein Übungsfeld für uns, sondern auch für den Menschen, der auf dem Tisch liegt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet seht ihr, dass es keinen großen Unterschied zwischen Praktiker und Klient gibt. Beide haben die Möglichkeit zu schwimmen und Angst zu haben – oder an derselben Stelle stecken zu bleiben.

Schwimmen bedeutet, unserem Leben etwas Neues hinzuzufügen – neue Wahrnehmungen, neue Gefühle, eine neue Art zu sein und manchmal neue Handlungsweisen. Es macht uns wieder lebendig und stärkt unseren Lebenshunger.